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Entwicklung des Sozialismus von 1954 bis 1989/90

1. Erstarken des Sozialismus.
2. Der Kurswechsel. Das Verhältnis zu den Klassen in der sozialistischen Gesellschaft.
3. Ursachen des Revisionismus in der politischen Ökonomie.
4. Die sozialistische Warenproduktion „besonderer Art“ und die neue Art der „Ausnutzung des Wertgesetzes“.
5. Schlussfolgerungen.
6. Langfristige Folgen der Wirtschaftsreformen nach 1953.
7. Kurze Zusammenfassung

1. Erstarken des Sozialismus.

Bis 1954 (Redaktionsschluss des vorliegenden Lehrbuchs) und auch noch in den folgenden Jahren erstarkte der Sozialismus. Diese Stärkung erfolgte in der Praxis: Die jungen Volksdemokratien Europas und Asiens beendeten die Übergangsperiode und begannen den sozialistischen Aufbau. Damit befand sich die Sowjetunion nicht mehr allein in der kapitalistischen Umkreisung. Ein Drittel der Menschheit hatte das imperialistische Joch abgestreift und beschritt den Weg zum Kommunismus. Das sozialistische Weltsystem entstand, das vom kapitalistischen Weltmarkt abgekoppelt war und einen eigenen sozialistischen Weltmarkt begründete. Der Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe (RGW) sorgte für neue Formen der Wirtschaftsbeziehungen innerhalb des sozialistischen Weltsystems zwischen der Sowjetunion, die bereits auf eine jahrzehntelange Entwicklung der sozialistischen Planwirtschaft zurückblicken konnte, den jungen Volksdemokratien und ehemaligen Kolonien. Aufgrund der sowjetischen Erfahrungen gelang es auch rückständigen Ländern, die über keinen entwickelten industriellen Sektor verfügten, den sozialistischen Entwicklungsweg einzuschlagen.

Es schien, als sei der Vormarsch des Sozialismus nicht mehr aufzuhalten.

Das widerspiegelte sich auch im Selbstverständnis der kommunistischen Parteien und der marxistischen Wissenschaft. Der gesetzmäßige Übergang vom Kapitalismus zu einer höheren Stufe der gesellschaftlichen Entwicklung, zum Sozialismus, wurde für selbstverständlich und unwiderruflich gehalten. War in der Vorkriegsperiode und im Großen Vaterländischen Krieg noch jedermann einleuchtend, dass man um den Erhalt der sozialistischen Gesellschaft kämpfen musste, wurde nun die Bedeutung des Klassenkampfes unterschätzt.

2. Der Kurswechsel. Das Verhältnis zu den Klassen in der sozialistischen Gesellschaft.

Nach Stalins Tod fand in der Sowjetunion unter Führung Chruschtschows ein Kurswechsel statt. Wir beschränken uns hier auf die Veränderungen und Reformen, die politökonomisch wirksam sind.

1. Man ging von der Tatsache aus, dass im Sozialismus die Ausbeuterklassen bereits beseitigt waren. Die sozialistische Gesellschaft bestand aus befreundeten Klassen und Schichten: der Arbeiterklasse, den Kollektivbauern und der sozialistischen Intelligenz. In völliger Verkennung der Funktion des sozialistischen Staates wurde statt der Diktatur des Proletariats (deren Existenz Marx und ihm folgend Lenin für die gesamte Periode bis zum vollständigen Sieg des Kommunismus vorausgesagt hatten) der „Staat des ganzen Volkes“ kreiert.

Marx schreibt in der Kritik des Gothaer Programms: „Zwischen der kapitalistischen und der kommunistischen Gesellschaft liegt die Periode der revolutionären Umwandlung der einen in die andere. Der entspricht auch die politische Übergangsperiode, deren Staat nichts anderes sein kann als die revolutionäre Diktatur des Proletariats.“[188]

Dies wurde bewusst oder unbewusst falsch verstanden. Unter der Periode der revolutionären Umwandlung verstand man nun nur noch die Periode, in der die Ausbeuterklassen beseitigt wurden und die mit der Errichtung der Grundlagen des Sozialismus abgeschlossen war und stellte damit den Klassenkampf im Sozialismus in Frage (zumindest dessen Verschärfung; auf ideologischem Gebiet wurde er formal anerkannt und geführt, allerdings unter der falschen Prämisse, der Sozialismus habe unwiderruflich gesiegt.)

Der Klassenkampf war in der Sowjetunion seit der Oktoberrevolution allgegenwärtig gewesen und er wurde auch so genannt. Der Kampf der kommunistischen Partei gegen die rechte und die linke Abweichung fand auf ideologischem Gebiet und mit der Macht des proletarischen Staates statt. Die konsequente Einführung der Planwirtschaft einschließlich der Industrialisierung und der Kollektivierung waren Klassenkampf auf ökonomischen Gebiet, der das Antlitz des Sowjetstaates vollständig veränderte.

Der erreichte Stand war beeindruckend und man erlag der Versuchung, sich mit den Gegebenheiten einzurichten, statt die gesellschaftliche Entwicklung in Richtung Kommunismus weiterzutreiben. Das ist jedoch nicht der Standpunkt der Arbeiterklasse, wohl aber der Standpunkt wohlsituierter Kleinbürger. Nicht die Abschaffung der Klassen und vollständiger Sieg des Kommunismus standen von nun an auf der Tagesordnung, sondern die Erweiterung der Konsummöglichkeiten. Einleuchten konnte diese Ideologie durchaus dem ganzen Volk, zumal sie von der führenden kommunistischen Partei verbreitet wurde, denn noch war der Mangel nicht überwunden. Wegen übermäßiger Akkumulation habe man bisher die Hebung des materiellen Lebensniveaus sträflich vernachlässigt, meinte die neue Führung, und versprach, es nun besser zu machen.

2. Folgende „Reformen“ wurden unter Chruschtschow durchgeführt:

  • Stimulierung der Landwirtschaft über Erhöhung der Aufkaufpreise (materielle Interessiertheit). Vorher hingegen wurde vom Staat vorrangig die Steigerung der Arbeitsproduktivität gefördert: durch Zusammenlegen kleiner Kolchose, durch Mechanisierung, verbesserte Fruchtfolge, verbessertes Saatgut, Be- und Entwässerung, Einsparung von Verwaltungskosten usw.
  • Verkauf der landtechnischen Maschinen an die Kolchose mit den von Stalin vorausgesagten Folgen. Die Kolchose wurden somit Eigentümer von Produktionsmitteln in weitaus größerem Umfang als bisher. Damit sank der Vergesellschaftungsgrad in der Landwirtschaft.
  • Um das Getreideproblem zu lösen wurde die Neulandkampagne gestartet. Die Landwirtschaft wurde also mit Hilfe des Komsomol und ziemlich uneffektiv extensiv erweitert, statt die Produktivität der bereits kultivierten Böden zu heben.
  • Man stellte ein Zurückbleiben der Konsumgüterproduktion fest und investierte verstärkt in die Abteilung II.
  • Man ging von der bisherigen Preisbildung über Selbstkostenpreise ab und führte ein Art Produktionspreis ein (ausgehend davon, die Betriebe müssten die Mittel zur erweiterten Reproduktion selbst erwirtschaften, anstatt zunächst einmal nur „rentabel“ – selbstkostendeckend – im Rahmen des Gesamtplans zu arbeiten).
  • Als sei dies alles noch nicht genug, wurde die Leitung der Volkswirtschaft umgestellt: man ging vom Zweig- zum Territorialprinzip über, schwächte also die zentrale staatliche Leitung.

All dies geschah, um den Gesetzen der sozialistischen Ökonomie Genüge zu tun: Das Gesetz der proportionalen Entwicklung sei verletzt worden, das Grundgesetz sei in Gefahr.

Warum diese Maßnahmen in die Irre führen, erklärt hinreichend das vorliegendes Lehrbuch. Die Probe aber wurde nun in der Praxis gemacht. Die Lage der Landwirtschaft verbesserte sich nicht, im Gegenteil. In der gesamten Volkswirtschaft sanken die Wachstumsraten. Nach den 11 Jahren Chruschtschow-Regierung musste man einige seiner Experimente, so die Leitung nach Territorialprinzip, zurücknehmen, und auch die Neulandkampagne wurde nicht weitergeführt.

Der Schaden war nicht nur ökonomisch. Infolge des neuen Kurses wurden die befreundeten Parteien, die in den volksdemokratischen Ländern regierten, verunsichert, zum Teil wurden sie auf die neue Linie genötigt. In diesen Ländern waren die kapitalistischen Reste und Traditionen aber noch stark und so kam es zu konterrevolutionären Unruhen (bekanntestes Beispiel: Ungarn 1956). In Polen wurde die Kollektivierung der Landwirtschaft abgebrochen.

Der Revisionismus in der politischen Ökonomie wurde auch nach Chruschtschows Abgang nicht überwunden. Inzwischen hatte sich die „Theorie der sozialistischen Warenproduktion“ entwickelt und wurde bis zum Sturz des Sozialismus in Europa gehegt und gepflegt. Auf der Tagesordnung stand nun die „vollständige Ausnutzung des Wertgesetzes“ im Interesse des Sozialismus.

Weil die Sowjetunion die führende sozialistische Wirtschaftsmacht war, waren die anderen sozialistischen Länder gezwungen, sich anzupassen.

3. Ursachen des Revisionismus in der politischen Ökonomie.

Eine der Ursache für das Weiterführen des Revisionismus lag im theoretischen Verständnis. Revisionisten sind immer schwach in der marxistischen Theorie. Lenin, als konsequenter Marxist, verlangte, die nationalisierte Volkswirtschaft wie einen einheitlichen Staatstrust zu betreiben. Wie dieses Prinzip in die Praxis umgesetzt wurde, beschreibt vorliegendes Lehrbuch:

Selbstkostenpreis in der Abteilung I – alle Betriebe geben ihre Produkte wie „Abteilungen“ zum Selbstkostenpreis weiter an die nächste Verarbeitungsstufe. Der Staat organisiert und plant und ist der uneingeschränkte Eigentümer. Der „Plangewinn“ hat Stimulierungsfunktion und ist nicht mit dem Mehrwert identisch. Der Selbstkostenpreis dient der wirtschaftlichen Rechnungsführung. Die planmäßige Senkung der Selbstkostenpreise förderte das Vermeiden von Verlusten und die Steigerung der Arbeitsproduktivität. Die Sache ist übersichtlich: jeder versteht, dass mit Steigerung der Arbeitsproduktivität der Wert der einzelnen Ware und damit ihr Preis fallen muss. Die Konsumgüter werden ebenfalls staatlich geplant und zum Einkommen der Bevölkerung ins Verhältnis gesetzt. Das Reineinkommen wird durch die Mehrarbeit der Werktätigen gebildet und über Gewinnabführung und Umsatzsteuer zum großen Teil dem Eigentümer der Produktionsmittel, dem Staat, zugeführt, der dann anhand des Gesamt- und Zweigplans über Investitionen in Industrie, Soziales, Kultur und Wissenschaft entscheidet. Der Staat ist die Diktatur des Proletariats.

Mit dem Übergang zum „Staat des ganzen Volkes“ wurde der Klassenkampf abgeschwächt. Reste marxistischen Verständnisses aber hatten sich erhalten: Wenn nicht der Klassenkampf die Gesellschaft weiter in Richtung Kommunismus vorantreibt, welche Triebkraft sollte nun wirken? Man setzte auf die wissenschaftlich-technische Revolution und sprach nun die führende Rolle der Wissenschaft zu.

Wir sehen, dass sich damit ein rein technokratisches Verständnis von Fortschritt durchsetzte. Geht man davon aus, dass sich die Gesellschaft nur durch Klassenkampf bis zum Kommunismus weiterentwickeln kann, dass gesellschaftlicher Fortschritt im marxistischen Sinne immer eine Frage der Klassen ist, so wurde dieser Aspekt nun vollständig ausgeblendet und nur noch die materielle Seite der Produktion sowie die Entwicklung „wissenschaftlicher Methoden der Planung und Leitung“ betrachtet.

Wir kommen nicht umhin, nach dem Träger dieser „Theorie“ zu fragen.

Nur die Arbeiterklasse ist in der Lage, die Gesellschaft konsequent in Richtung Kommunismus weiterzuentwickeln und die Klassen (und Schichten) abzuschaffen; deshalb, meinten die Klassiker, müsse der sozialistische Staat die Diktatur des Proletariats sein. Mit der so genannten Verwissenschaftlichung der Planung und Leitung aber kam die Nomenklatura zu ihrem Recht. Die Leitung war nun schon vom Verständnis her nicht mehr jedermann zugänglich, sie erforderte Spezialistentum ebenso wie der wissenschaftlich technische Fortschritt. Wurde vor diesem „neuen Kurs“ rigoros der Verwaltungsaufwand reduziert (Der Selbstkostenpreis zwang dazu, auch Leitung und Verwaltung mussten ja bezahlt werden), so begannen sich nun die Apparate aufzublähen, alles im Namen des wissenschaftlich-technischen Fortschritts und der Verbesserung der Leitungstätigkeit. Sparpotentiale wurden hauptsächlich in der materiellen Produktion gesucht.

Konfliktlos setzte sich der neue Kurs nicht durch. Man führt theoretische Auseinandersetzungen, die diesen Klassenkampf – gegen die Diktatur des Proletariats - illustrieren. Stalins „Fehler“ wurden benannt, darunter der politökonomische Grundsatzfehler: Stalin hielt Produktionsmittel nicht für Waren. Auf diesem Standpunkt steht auch das vorliegende Lehrbuch der Politischen Ökonomie. Nun aber wurde dieser erreichte theoretische Stand in Frage gestellt und immer weiter zurückgenommen.

Sind Produktionsmittel Waren oder nicht? Man hätte ohne Schaden für den Sozialismus diskutieren können, wenn man nicht flugs aus einigen unreifen theoretischen Überlegungen eine Anleitung fürs Handeln gemacht hätte.

4. Die sozialistische Warenproduktion „besonderer Art“ und die neue Art der „Ausnutzung des Wertgesetzes“.

Wenn die Betriebe Warenproduzenten sind, so hat das Folgen. Sie sind nicht mehr nur für Produktion und Planerfüllung voll verantwortlich und auf dieser Ebene selbständig, sondern sie werden selbständig und verantwortlich gemacht auch für die erweiterte Reproduktion. Gab es vorher die Arbeiterklasse als „assoziierte Produzenten“ und den Staat als Diktatur des Proletariats, so schob sich jetzt eine weitere Ebene zwischen Arbeiter und „Staat des ganzen Volkes“: die „wirtschaftlich selbständigen Betriebe“ als Warenproduzenten. Um die erweiterte Reproduktion zu sichern, musste den Betrieben über den Ersatz der Selbstkosten hinaus ein größerer Teil des Reineinkommen zugeteilt werden. Zu diesem Zweck wurde eine Art Produktionspreis eingeführt, d.h. ein Gewinnaufschlag auf die Fonds. Diese Preisbildung wurde mit Blick auf die kapitalistische Produktionsweise als „richtig“ empfunden, nämlich als wertgetreu, während der Selbstkostenpreis „unter Wert“ lag, weil er ja nur den Aufwand, nicht aber die Mehrarbeit enthielt.

Der Staat verlor mit der Einführung der wirtschaftlichen Selbständigkeit der Betriebe einen Teil seiner Wirtschaftsfunktion, nämlich die zielgerichtete Akkumulation von Staats wegen. Die Grundlage des Sozialismus, das gesellschaftliche Eigentum an den Produktionsmitteln, wurde nicht angetastet. Die Arbeitskraft blieb frei und wurde nicht wieder zur Ware.

Das „neue“ System sollte Planerfüllung und Produktivitätssteigerung indirekt, mittels „ökonomischer Hebel“, stimulieren. Der erreichte Vergesellschaftungsgrad wurde damit teilweise – und zwar gesamtgesellschaftlich – zurückgenommen.

Selbstkostenpreise der Produktionsmittel sind niedriger als „Produktionspreise“, weil von Mehrwert m, dem Produkt für die Gesellschaft, abgesehen wird. Wie die Umverteilung funktioniert, wird im Lehrbuch beschrieben, so dass wir uns hier auf die Vorteile des Selbstkostenpreises gegenüber dem „Produktionspreis“ beschränken können. Selbstkostenpreise fördern Investitionen, weil diese „billig“ sind, eben nur Selbstkosten umfassen; fördern die Einsparung lebendiger Arbeit, weil die lebendige Arbeit in der Selbstkostenrechnung entsprechend teuer ist (einmal wegen der verhältnismäßig niedrigen Produktionsmittelpreise, zum anderen, weil die Arbeitskraft keine Ware mehr ist und der Lohn höher liegt als der Preis der Ware Arbeitskraft); fördern das Sparsamkeitsregime, weil kein Gewinn Verluste zudecken kann.

Dies alles reizt an zur schnellen Steigerung der Arbeitsproduktivität und fördert des Wachstums der Produktion, also den wirtschaftlichen Aufschwung. Wie gut das System funktionierte, zeigen die erstaunlichen Erfolge der ersten Fünfjahrpläne, die Überlegenheit der Kriegswirtschaft der Sowjetunion über die kapitalistische Wirtschaft des faschistischen Blocks und der schnelle Wiederaufbau nach dem Sieg.

Das schlagende Argument gegen den Selbstkostenpreis war, er sei nicht wertgetreu. Die Produktionsmittel seien zu billig, die Konsumgüter zu teuer. Leider kann man unter sozialistischen Verhältnissen aber keinen „richtigen“ Produktionspreis einführen, einfach, weil im Sozialismus die Anarchie des preisregulierenden Marktes bereits überwunden ist. Man kann nur planen – und die Preisbildungsregeln ändern. Der sogenannte Produktionspreis wurde also geplant, indem man einen prozentualen Aufschlag auf die Selbstkosten, denen die beanspruchten gesellschaftlichen Fonds zugrunde liegen, festlegte.

Die Folgen waren schwerwiegend. Über den Preisbildungsmechanismus erfolgte nun die Umverteilung zugunsten der „wirtschaftlich selbständigen“ Betriebe. Der „Produktionspreis“ der „sozialistischen Warenproduktion besonderer Art“, nämlich ohne Kapitalisten, fördert den Betriebsegoismus. Aber gesamtgesellschaftliche Fragen können auf Betriebsebene nicht überblickt werden, die müssen weiterhin zentral geplant werden. Damit war der Grundstein gelegt, den Plan als „störend“ (nämlich als „äußeren Eingriff“) zu empfinden und nach immer mehr Handlungsspielraum für die Betriebe zu verlangen. Die zentrale Leitung verlor an Bedeutung und musste sich mit administrativen Maßnahmen durchsetzen. Die Planung der Produktion wurde auf diese Weise schleichend diskreditiert.

Die Einführung des „Produktionspreises“ der sozialistischen Warenproduktion besonderer Art führte zu höheren Preisen für Produktionsmittel und erhöhte so auf den Folgestufen die Selbstkosten. Folgerichtig stiegen die Preise auf allen Ebenen der Verarbeitung – gegen die Erwartung, es werde möglich sein, die „überhöhten“ Preise der Konsumgüter zu senken. Schon bald zeigten sich inflationäre Tendenzen. Der „wahre Wert“ verflüchtigte sich immer mehr.

Wert, sagt Marx, ist ein gesellschaftliches Verhältnis[189]. Der Wert wird immer im Produktionsprozess gebildet und im Kapitalismus auf dem Markt festgestellt. Die sozialistische Planwirtschaft hatte gezeigt, dass es sehr gut ging, „Wert“ zu produzieren und zugleich in Form der Selbstkosten zu planen, nun scheiterte sie am „wahren Wert.“

Die Erosion übrigens verlief schleichend: Der inflationären Tendenz wirkte die Steigerung der Arbeitsproduktivität entgegen; die befreite Arbeit war zu großen Taten fähig und der Schwung des erfolgreichen Beginns trug noch: Die Sowjetunion hielt auf etlichen Gebieten die Weltspitze. Krisenanzeichen wurden lange übersehen.

5. Schlussfolgerungen.

Heute kann man definitiv feststellen: Der sozialistische Gewinn ist keine Steuerungsgröße der sozialistischen Wirtschaft. Dank der Festpreise und der Planung wird unter sozialistischen Verhältnissen jeder (Plan-)Preis gezahlt. Der Wert ist ein gesellschaftliches Verhältnis und lässt sich nicht durch Tricks vermehren. Diese Tricks der „wissenschaftlichen Planung und Leitung der Volkswirtschaft“ wirken nur auf den Preismaßstab. Der Versuch, über höhere Gewinne mehr einzunehmen, also sozialistisches Geld zu machen, führt ganz richtig zu einer Abwertung dieses Geldes. Die ökonomischen Gesetze setzen sich hinter dem Rücken der Menschen durch, die sie nicht akzeptieren wollen.

Es gibt auch keine „korrekte“ Gewinnrate auf volkswirtschaftlicher Ebene. Die sozialistische (wie die kommunistische) Gesellschaft muss sich, wie Marx sagt[190], nur darüber klar werden, was sie vom neugeschaffenen Produkt als Konsumtions-, Reserve- und Akkumulationsfonds verwenden will. Dies ist die Grundaufgabe gesamtgesellschaftlicher Planung. Komplizierter als unter kapitalistischen Verhältnissen wird es außerdem, weil die Arbeitskraft keine Ware mehr ist und folglich auch keinen Preis mehr hat: die Grenzen zwischen den Marxschen Kategorien v (variables Kapital) und m (Mehrwert) sind unter sozialistischen Verhältnissen somit unbestimmt. Hier springt der Plan ein, verteilt die Arbeit und stellt der Arbeiterklasse die Aufgabe. Deshalb wird der Plan auch nur erfüllt, wenn die Arbeiterklasse von seiner Richtigkeit überzeugt ist – der kollektive Wille der Produzenten ist eine reale Kraft.

Dem Sozialismus geht es immer um die konkreten Produkte, um Erdöl, Stahl, Brot, Computer oder Waschmaschinen. Das sozialistische Geld hilft nur beim Umschlag der Güter und dient als Wertmaß und damit zur Rechnungsführung und Kontrolle über die Verausgabung gesellschaftlicher Arbeit. Über die Höhe des Preismaßstabs ist damit nichts gesagt.

Sozialistisches Geld hat bereits eine Geldfunktion verloren, nämlich die, allgemeines Äquivalent zu sein. Man kann bereits etliches nicht mehr kaufen: die Arbeitskraft, Grund und Boden, auch nicht Produktionsmittel, wenn es nicht der Plan vorsieht. Die Geldkreisläufe Lohn – Konsumgüter, und andererseits zwischenbetriebliche Verrechnungen sind getrennt. Kapital als selbstverwertender Wert ist damit unmöglich geworden.

Die Arbeitskraft ist keine Ware mehr und der Lohn wird in sozialistischer Binnenwährung gezahlt, für die nur Konsumgüter – entsprechend dem Leistungsprinzip - zu kaufen sind. Hier nährt sich das Geld dem „Arbeitsgeld“ an, ist nur mehr Berechtigung zum Zugriff auf den Konsumgüterfond.

6. Langfristige Folgen der Wirtschaftsreformen nach 1953.

Der Lohn wurde im Verhältnis zu den Produktionsmitteln, deren Preis durch die hohe Gewinnspanne des Produktionspreises über die Jahre stark stieg, immer niedriger. Das hatte direkte ökonomische Folgen: Investitionen wurden teuer (hohe Produktionsmittelpreise), der „Rückfluss“ aus Lohneinsparung blieb wegen der „niedrigen“ Löhne aus. Viele Investitionen „rechneten sich nicht“. Damit wurde die Steigerung der Arbeitsproduktivität gebremst oder musste mühsam über Planvorgaben (administrativ) durchgesetzt werden. Das wirtschaftliche Wachstum verlangsamte sich – allerdings nie bis zum Stillstand, wie es der Kapitalismus immer wieder erleben muss. Letzteres war dem Plan zu danken, der dem Markt bis zuletzt keinen vollen Spielraum gab.

Die Fehler im System bleiben den eigentlichen Produzenten, den Arbeitern, natürlich nicht verborgen. Das Vertrauen in die Wirtschaftspolitik der regierenden kommunistischen Parteien sank drastisch. Jeder einzelne konnte nun die Erfahrung machen, dass er an der Lage nichts ändern konnte.

Die offiziellen Warenproduzenten, die Betriebe, machten aus den Rahmenbedingungen das beste, stießen aber immer wieder auf Widersprüche. Die sozialistische Warenproduktion besonderer Art sah der richtigen Warenproduktion nur ähnlich. Der Ausweg, den die technische und wissenschaftliche Intelligenz sah, war, nach mehr Markt und mehr wirtschaftlicher Selbständigkeit zu verlangen. Die bürgerliche Propaganda hatte gewirkt: Die sozialistische Planung, ohne die Volkseigentum nicht betrieben werden kann, verstand man als unsachgemäße Einmischung in betriebliche Belange, die doch wohl die Fachleute besser beurteilen konnten. Die Fachleute hatten auch nichts dagegen, einmal richtig Geld zu verdienen. Der Augenschein schien den Spezialisten recht zu geben: nach dreißig Jahren sozialistischer Warenproduktion mit „Produktionspreis“ war der Kursverfall der sozialistischen Binnenwährung auf dem Weltmarkt nicht mehr zu vertuschen. Devisen wurden teuer, die Konsumgüter mussten inzwischen massiv subventioniert werden, um die Kaufkraft der Einkommen stabil zu halten.

Die Gesellschaft stagnierte, bewegte sich schon gar nicht mehr in Richtung Kommunismus. Auch theoretisch kam es zum Stillstand: Klassen und Schichten – befreundet selbstverständlich, würden die gesamte sozialistische Phase prägen, der Übergang zum Kommunismus wurde einseitig am Verteilungsprinzip festgemacht – erst wenn jeder nach Bedürfnis konsumieren könnte, wäre die Gesellschaft reif für den Kommunismus.

Kommunistische Verteilung beschränkte sich auf das, was die ersten Maßnahmen nach der Revolution gewesen waren: kostenloses Gesundheitswesen, kostenlose Bildung, kostenlose Kinder- und Altenbetreuung. Eine schrittweise Erweiterung der kommunistischen Verteilung passte nicht mehr ins System des zunehmenden Konsumgüter-Fetischismus und der Herrschaft des Leistungsprinzips, in dem man ein ökonomisches Gesetz sah, das nicht verletzt werden durfte.

Die sozialistische Verteilung aber war nicht „wertgetreu“, sondern erfolgte zunehmend über Subventionierung von Konsumgütern und Dienstleistungen. Dies täuschte sozialistische Prinzipien vor, denn vorgesehen waren diese Subventionen nicht, sie wurden unerwartet notwendig, als das Preisgefüge außer Kontrolle geriet, man aber von stabilen Lebensverhältnissen nicht abrücken wollte. Der Plan gestattete, die steigenden Industrieabgabepreise nicht an die Endverbraucher weiterzugeben. Die Konsumgüterpreise und damit die Kaufkraft sollten stabil gehalten werden. Darin sah der sozialistische Staat nun seine soziale Aufgabe und war stolz auf das Gelingen. Das war aber kein Vorzug, sondern ein Mangel, weil eine Notmaßnahme. Das Geld des Lohnfonds war so nicht einmal mehr Wertmaß.

Trotzdem sicherte die sozialistische Planwirtschaft bis zu ihrem Ende grundsätzliche Errungenschaften: Die Arbeit war von Ausbeutung befreit, die Arbeitskraft keine Ware, das Recht auf Arbeit war durchgesetzt, ebenso die sozialen Grundrechte auf Wohnung, Gesundheitsversorgung, Bildung, Erholung usw.

Die Ursache ist bekannt: das gesellschaftliche Eigentum an den Produktionsmitteln und die Planwirtschaft. Damit ist das grundlegende Merkmal für sozialistische Gesellschaften erfüllt. Zugleich waren die sozialen Gegensätze zwischen Klassen und Schichten seit langem beseitigt. Allerdings waren die Klassen und Schichten nicht aufgehoben, sie wurden konserviert. Die sozialistische Gesellschaft ist aber nicht widerspruchsfrei. Im Gegenteil, sie lebt davon, eigene Widersprüche zu erkennen und zu Antriebsmomenten der weiteren Entwicklung, zur Grundlage immer neuer revolutionärer Entwicklungsschübe zu nutzen. Der Sozialismus in Europa hingegen etablierte die Intelligenzia, die Funktionäre in Staat, Partei, Wirtschaft und Wissenschaft, wobei zum Großteil gewesene Arbeiter oder wenigstes Kräfte aus Arbeiterfamilien, bevorzugt waren. Dem „einfachen“ Arbeiter, Menschen, die mit den entstandenen Widersprüche vertraut waren, waren indessen Leitungsfunktionen in Betrieb, Gewerkschaft und Partei längst nicht mehr so leicht zugänglich. Dies bedeutete eine Begrenzung der Möglichkeiten des Sozialismus, möglichst schnell auf eigene Defizite zu reagieren.

Man baute den Sozialismus „auf seiner eigenen Grundlage“ auf, aber nicht mehr zielstrebig in Richtung Kommunismus, d.h.:

  • in Bezug auf die Vereinheitlichung der Eigentumsverhältnisse (einerseits Planung, andererseits sozialistische Warenproduktion)
  • in Bezug auf die richtige Verteilung der gesellschaftlichen Ressourcen in die Abteilungen I und II
  • in Bezug auf die Überwindung der Klassen und Schichten mittels der Einbeziehung möglichst vieler Werktätiger in die Leitungs- und Planungsfunktionen.

Gerade die Verletzung des Prinzips „Arbeite mit, plane mit, regiere mit“ erzeugte Stagnation in den gesellschaftlichen Verhältnissen, was den revolutionären Schwung lähmte und zu Antriebsverlust führte. Bei festgeschriebenen gesellschaftlichen Verhältnissen lohnte es sich nicht mehr, sich auf die Gesellschaft einzulassen; die individuellen Interessen traten immer mehr in den Vordergrund. Der Sozialismus auf der Datsche konnte dem Ansturm der Konterrevolution nichts mehr entgegensetzen.

7. Kurze Zusammenfassung

1. Nach der erfolgreichen Entwicklung des Sozialismus wurden ab 1953 Korrekturen an bis dahin geltenden Grundsätzen vorgenommen. Die Diktatur des Proletariat wurde abgeschafft. Das gesellschaftliche Eigentum an den Produktionsmitteln und die Planwirtschaft blieben erhalten. Damit bestanden bis 1989/90 sozialistische Produktionsverhältnisse.

2. Die Planung erfolgte nicht mehr nur direkt, sondern zunehmend indirekt, durch „ökonomische Hebel“ (Preisbildungsregeln, Gewinn als Bewertungsmaßstab für die wirtschaftliche Tätigkeit der Betriebe)

3. Nicht mehr der Klassenkampf, sondern der wissenschaftlich-technische Fortschritt sollte die Gesellschaft in Richtung Kommunismus bewegen. Die Diktatur des Proletariats wurde nicht, wie versprochen durch „Volksherrschaft“ ersetzt, sondern durch Fachleute und Spezialisten. Die Arbeiter und Bauern wurden zunehmend aus der Verantwortung für Staat und Wirtschaft entlassen.

4. Die wirtschaftlichen Probleme – verlangsamtes Wachstum, inflationäre Tendenzen, massive Subventionen – nahmen zu. Die regierenden kommunistischen Parteien hatten zuerst die Arbeiterklasse aus der Verantwortung verdrängt und dann bei allen Klassen und Schichten das Vertrauen verspielt, um eine erfolgreiche Wirtschaftspolitik machen zu können.